Versagung des Vorsteuerabzugs bei Einbeziehung in Mehrwertsteuerhinterziehung (Umsatzsteuerkarussell)

EuGH, Urt. v. 11.01.2024 – C-537/22, Global Ink Trade Kft

1. Hintergrund und rechtliche Situation:
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 11.1.2024 (C-537/22) befasst sich mit der Versagung des Vorsteuerabzugs durch die ungarische Steuerverwaltung für die Global Ink Trade Kft. Der Streit entsteht in einem Kontext, in dem die Steuerverwaltung behauptet, die Rechnungen, die Global Ink für erworbene Büroartikel erhalten hat, seien nicht glaubhaft, da der Lieferant, Office Builder Kft., keine legitime wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt habe und eine passive Steuerhinterziehung im Raum steht.

2. Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts:
Der EuGH hebt hervor, dass nationale Gerichte verpflichtet sind, die Beurteilungen höherer nationaler Gerichte zu ignorieren, wenn sie der Ansicht sind, dass diese nicht mit dem Unionsrecht übereinstimmen. Dies gilt, selbst wenn nationale Regelungen existieren, die Anforderungen stellen, diese Abweichungen zu begründen.

3. Vorsteuerabzugsrecht und Steuerhinterziehung:
Das Recht auf Vorsteuerabzug ist ein grundlegender Bestandteil des Mehrwertsteuersystems. Es kann nur unter Beweisführung, dass eine Steuerhinterziehung oder ein Rechtsmissbrauch vorliegt, versagt werden. Die Steuerbehörden müssen nachweisen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass die erworbenen Leistungen in eine Steuerhinterziehung involviert waren.

4. Anforderungen an die Nachweisführung:
Die Steuerverwaltung ist verpflichtet, objektive Umstände nachzuweisen, die auf eine Steuerhinterziehung hinweisen, und diese Nachweispflicht schließt nicht nur die Feststellung von Karussellbetrugsfällen ein, sondern auch eine genaue Bestimmung der Tatbestandsmerkmale und die aktive Beteiligung des Steuerpflichtigen an der Hinterziehung.

5. Sorgfaltspflichten des Steuerpflichtigen:
Der EuGH betont, dass die Sorgfaltspflichten eines Steuerpflichtigen im Einzelfall unterschiedlich sein können. Wenn es Anhaltspunkte für eine Steuerhinterziehung gibt, kann von ihm höhere Sorgfalt erwartet werden. Es ist jedoch nicht gerechtfertigt, von ihm die Durchführung komplexer Überprüfungen zu verlangen, die normalerweise den Steuerbehörden zukommen.

6. Eindeutigkeit und Vorhersehbarkeit von Anforderungen:
Die Steuerbehörden müssen sicherstellen, dass die Leitlinien, die ihnen Auflagen machen, eindeutig und für die Steuerpflichtigen vorhersehbar sind. Diese Anforderungen dürfen die Rechtsposition des Steuerpflichtigen nicht unverhältnismäßig erschweren.

7. Schlussfolgerungen zu den Einzelanträgen:

  • Der EuGH stellte klar, dass die bloße Feststellung einer unklaren Identität des Lieferanten nicht ausreichend ist, um einen Vorsteuerabzug zu versagen. Solche Annahmen dürfen nicht als Beweisgrundlage verwendet werden, ohne dass objektive Umstände nachgewiesen werden.
  • In Fällen von Karussellbetrug darf die Steuerverwaltung nicht allein auf die Zugehörigkeit dieser Umsätze zu Karusselltransaktionen verweisen, ohne klare Beweise zu führen.
  • Die Anforderungen an die Steuerpflichtigen in Bezug auf persönliche Kontakte zu Lieferanten oder die Anwendung expliziter E-Mail-Adressen dürfen nicht systematisch zu einem Verlust des Vorsteuerabzugsrechts führen.

8. Auswirkungen auf nationale Vorschriften:
Die Entscheidung hat weitreichende Konsequenzen für die nationale Gesetzgebung, einschließlich der deutschen Umsatzsteuervorschriften (UStG), da diese möglicherweise nicht den klaren Anforderungen des EuGH entsprechen. Insbesondere die Regelungen, die den Steuerpflichtigen große Nachweispflichten auferlegen, könnten als unzulässig betrachtet werden.

Fazit: Der EuGH hat mit dieser Entscheidung klare Richtlinien für die Beweisführung und Anforderungen an die Steuerverwaltung sowie an die Steuerpflichtigen hinsichtlich des Vorsteuerabzugs bei möglichen Steuerhinterziehungen gesetzt.

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