NJW 12/2021: Interview mit Dr. Rainer Buchert -
Hinweisgeber auf verlorenem Posten?

Wendet sich ein Arbeitnehmer als Whistleblower an die Öffentlichkeit, dann sollte er im Vorfeld sehr genau prüfen, ob sein Verdacht tatsächlich zutrifft. Anderenfalls können ihm arbeitsrechtliche Konsequenzen drohen. Das hat Mitte Februar der EGMR entschieden. Was bedeutet dieses Judikat nun für die Hinweisgebersysteme, die viele Betriebe installiert haben? Das wollten wir von dem Frankfurter Rechtsanwalt Dr. Rainer Buchert wissen, der seit Jahren als Ombudsmann für zahlreiche namhafte Unternehmen fungiert.

NJW: Der EGMR hat Mitte Februar die Kündigung eines Arztes für zulässig erachtet, der seinen Vorgesetzten wegen eines schwerwiegenden Verdachts angezeigt hatte, der sich aber im Nachhinein nicht bewahrheitet hat. Das wird potenzielle Hinweisgeber kaum ermutigen, einen Verdachtsfall zu melden, oder? Markiert das Judikat möglicherweise sogar das Ende der Hinweisgebesysteme in Unternehmen?

Buchert: Das Urteil mag auf den ersten Blick – insbesondere Laien – irritieren. Es ist indes überzeugend, weil es auf einer nachvollziehbaren Abwägung zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und den Interessen des Arbeitgebers beruht. Das Urteil führt Hinweisgebersysteme nicht ad absurdum, sondern zeigt im Gegenteil wie wichtig sie sind. NJW: Bevor wir uns über die Details unterhalten: Könnten Sie unseren Lesern in aller Kürze erklären, weshalb der EGMR – wie sämtliche Vorinstanzen auch – die Kündigung des Hinweisgebers für rechtmäßig erklärt hat?

Buchert: Der EGMR prüft stets, ob die infolge des Whistleblowings ausgesprochene Kündigung des Arbeitnehmers und die dem stattgebenden Urteile der Vorinstanzen den Arbeitnehmer in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzen (Art. 10 EMRK). Maßgebend ist dabei, ob ein öffentliches Interesse an der Information besteht, dieses Interesse gegenüber dem möglichen Schaden für den Arbeitnehmer überwiegt, der Arbeitnehmer/Whistleblower in gutem Glauben gehandelt hat, er die Richtigkeit der Information geprüft hat und es ihm zumutbar war, zunächst interne Meldekanäle zu nutzen. In dem Fall, über den wir hier sprechen, kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass der Arzt bei sorgfältiger Prüfung die Unrichtigkeit seiner Behauptung hätte erkennen können. Er hatte nämlich nicht alle ihm zugänglichen Akten eingesehen mit der Folge, dass sich sein Verdacht auf unvollständige Informationen gestützt hatte. Angesichts der Schwere der Anschuldigung und des großen Reputationsschadens für das Krankenhaus durfte der Arbeitnehmer sein Recht auf freie Meinungsäußerung nicht in dieser Form ausüben.

NJW: Heißt das nun, dass über einem Arbeitnehmer, der einen Verdacht meldet, stets das Damoklesschwert Abmahnung bzw. Kündigung schwebt? Bucher: Vereinfacht gesagt bestand bislang dieses Risiko nur, wenn eine Verdachtsmeldung an Stellen außerhalb des Unternehmens abgegeben wurde, beispielsweise an Behörden oder Medien, es dem Hinweisgeber aber zumutbar gewesen wäre, sich zunächst intern um Abhilfe zu bemühen. Dies ändert sich nun durch die EU-Whistleblower-Richtlinie und ihre Umsetzung in nationales Recht durch das Hinweisgeberschutzgesetz, das als Referentenentwurf vorliegt.

NJW: Wie weit gehen die Prüfpflichten eines Hinweisgebers, bevor er einen Fall meldet oder gar an die Öffentlichkeit geht?

Buchert: Nach dem Gesetzentwurf soll ein Hinweisgeber dann geschützt sein, wenn er zum Zeitpunkt seiner Meldung hinreichenden Grund zu der Annahme hatte, dass die Information der Wahrheit entspricht. Der Erwägungsgrund 32 der EU-Whistleblower-Richtlinie stellt in diesem Zusammenhang auf die „dem Hinweisgeber verfügbaren Informationen ab“. In der Begründung zum Hinweisgeberschutzgesetz wird verdeutlicht, dass eine Meldung nicht leichtfertig ohne Bemühen um Verifizierung erfolgen darf. Dies geht aber nicht so weit, dass der Hinweisgeber eigene Ermittlungen anstellen muss.

NJW: Eine Antwort auf die Frage, ob ein Arbeitnehmer einen Verdachtsfall erst intern anzeigen muss, bevor er an die Öffentlichkeit geht, bleibt der EGMR gleichwohl schuldig. Können Sie sie beantworten?

Buchert: Die Antwort gibt das Hinweisgeberschutzgesetz fußend auf der EU-Whistleblower-Richtlinie. Danach haben Whistleblower künftig ein Wahlrecht, ob sie eine Meldung an interne Stellen im Unternehmen oder an – zum Teil noch zu schaffende – externe Stellen abgeben, wobei von Unternehmen mandatierte Ombudspersonen als interne Stellen gelten. Erst wenn die Meldung an eine externe Stelle erfolglos geblieben ist, dürfen Hinweisgeber an die Öffentlichkeit gehen, also beispielsweise Medien einschalten.

NJW: Der Anwalt des Klägers hält den Beschluss für ein fatales Signal für potenzielle Whistleblower. Hat er Recht?

Buchert: Das ist eine einseitige Kommentierung. Man muss das Urteil so lesen, dass zu leichtfertige Anschuldigungen Unrecht und nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. NJW: Wie wäre denn der Fall bei Geltung des Hinweisgeberschutzgesetzes in Form des gegenwärtigen Entwurfs zu beurteilen?

Buchert: Wohl nicht anders. Das Hinweisgeberschutzgesetz konstituiert in § 35 II zwar eine Vermutung, dass eine Benachteiligung eines Hinweisgebers eine verbotene Repressalie ist. Der Arbeitgeber kann diese Vermutung aber widerlegen, wenn er begründen kann, dass seine Kündigung sachlich gerechtfertigt ist. Da der Arzt nicht alle ihm zur Verfügung stehenden Informationen genutzt und überdies sich an eine vom Gesetz nicht vorgesehene externe Stelle gewandt hat, wäre auch nach der künftigen Rechtslage eine Kündigung meines Erachtens gerechtfertigt.

Dr. Rainer Buchert ist nach einer polizeilichen Karriere im Bundeskriminalamt in Wiesbaden, als Leiter der Kriminalpolizei des Landes Sachsen Anhalt und als Polizeipräsident von Stadt und Kreis Offenbach seit über 20 Jahren als Rechtsanwalt in Frankfurt a.M. tätig. Die von ihm gegründete Kanzlei Buchert Jacob & Partner ist auf Strafrecht und Criminal Compliance spezialisiert. Buchert war einer der ersten Anwälte Deutschlands, der von einem Unternehmen als Ombudsmann berufen worden ist.

NJW: Was bedeutet der Straßburger Richterspruch für das weitere Gesetzgebungsverfahren des von Ihnen bereits mehrfach erwähnten Hinweisgeberschutzgesetzes?

Buchert: Das Urteil gibt keine Veranlassung, an dem Gesetzentwurf etwas zu ändern. Letztlich geht es um die Auslegung, was als „hinreichender Grund“ ausreicht, und das sind die dem Hinweisgeber zur Verfügung stehenden Informationen. Man darf die Anforderungen an Whistleblower nicht überspannen. Als Grundregel kann jedoch gelten, dass die Anforderungen an eine Verifizierung umso höher sind, je schwerwiegender der geäußerte Verdacht ist, vor allem wenn dies öffentlich geschieht. Zu Whistleblowing gehört eben auch Verantwortung.

NJW: Wie bewerten Sie den Entwurf nach allem, was bis heute bekannt ist? Buchert: An dem Gesetzentwurf gibt es nichts Wesentliches zu mäkeln. Positiv ist vor allem, dass über das EU-Recht hinaus nationale Tatbestände ergänzt worden sind, zu denen Verstöße gemeldet werden können, und dass Hinweisgebersysteme – schon lange best practice – in abgestufter Form verbindlich werden. Die Kritik an dem Wahlrecht des Hinweisgebers, Hinweise intern oder extern abzugeben, teile ich nicht. Das verstärkt das Erfordernis für Unternehmen „attraktive“ und funktionierende interne Hinweisgebersysteme einzurichten. Das Gesetz fordert auch insoweit entsprechende Anreize zu schaffen (§ 7 III).

NJW: Wie lautet Ihr zusammenfassendes Fazit zu dem Gesetzentwurf? Buchert: Bei dem Gesetz geht es zwar vordergründig um den Hinweisgeberschutz. Die tiefere Bedeutung ist jedoch der Nutzen für die Wirtschaft, von der in Zukunft verstärkt Schaden abgewendet wird. Das haben aber viele Unternehmer bislang noch nicht erkannt.

Interview: Monika Spiekermann

Autor

Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW), Monika Spiekermann,
23.03.2021

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